Share

Sofort, … unverzüglich!

Keine Atempause
Geschichte wird gemacht
Das geht voran!

Fehlfarben

Es ist der 9.November 1989, kurz vor 19.00 Uhr. Im Wohnzimmer lief das Fernsehgerät. Die Nachrichten im Herbst 1989 überschlugen sich. Demonstrationen in allen großen Städten der DDR, Gorbatschow, Glasnost & Perestroika, ein letztes, großes Schützenfest in Ost-Berlin, mit dem die DDR ihr 40-jähriges Bestehen feierte, Honeckers Abgang, Egon Krenz, der Geläuterte, usw. und sofort.
Das Abendessen stand auf dem Tisch, mein Vater ging in die Küche, da er Hunger hatte und ich harrte noch einen Moment am Fernseher bei der täglichen „heute“-Sendung aus.

Kurzfristig wurde in eine Pressekonferenz nach Ost-Berlin umgeschaltet. Günter Schabowski, seit wenigen Tagen „Sekretär für Informationswesen“ gab eine Erklärung ab – in tadellosem „Verwaltungsdeutsch“.

Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne daß dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. […] Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu West-Berlin erfolgen.

Auf die Frage eines Journalisten, ab wann diese Verordnung in Kraft tritt, stammelte Schabowski: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Man konnte den Eindruck gewinnen, dass er gar nicht überrissen hat, was er da gerade von sich gegeben hat.

Die Mauer, die Grenze, die schikanösen Kontrollen und Todesängste hatten mit einem Satz aufgehört zu existieren. Ich ging in die Küche an den Abendbrottisch und mein Vater fragte: „Watt jibbet Neues?“
Ich sagte, dass die Mauer auf ist, dass jeder DDR-Bürger ohne Grund ins Ausland, also auch in die Bundesrepublik reisen kann. „So schnell wird bei den Preussen nicht geschossen“, entgegnete mein Vater. Meine Mutter schüttelte nur ungläubig den Kopf.
Danach überschlugen sich die Ereignisse – wenig später wurde auf allen Sendern das Programm geändert und es wurde live von sämtlichen Grenzkontrollstellen in Berlin und vom Ku’Damm berichtet. Kilometerlange Trabant- und Wartburgschlangen bildeten sich Richtung Westen, selbst in meiner Heimatstadt Neuss fuhren Autos hupend durch die Strassen.

Doch es blieb immer noch eine gespenstische Angst: Was machen die Grenzkontrollposten der DDR angesichts der unübersichtlichen Lage? Was machte die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte in der DDR, die mit knapp 380.000 Mann vor Ort war? Ich erinnerte mich an die Worte eines britischen Colonel während meiner Bundeswehrzeit: „We don’t fear the Soviet forces, we fear the forces of the GDR, the Nationale Volksarmee“.
Wie auch bei sämtlichen Demonstrationen schritten die Sowjets hier nicht ein, die Grenzkontrollkräfte und die Nationale Volksarmee der DDR konnten nur in Schockstarre die Ereignisse geschehen lassen, insbesondere, da es hier keine eindeutigen Befehle der Staats- und Parteiführung gab und diese zunächst auf Tauchstation ging. Niemand wollte sich die Finger schmutzig machen, … Gott sei Dank!
Aufatmen.

Bundeskanzler Helmut Kohl befand sich an diesem Tag mit einer Delegation in Warschau, um mit der ersten frei gewählten Regierung Polens nach dem 2.Weltkrieg zu sprechen. Er brach seinen Besuch ab, konnte jedoch mit der Regierungsmaschine nicht nach Berlin fliegen, da es nur Flugzeugen der Alliierten des 2.Weltkrieges vorbehalten war, West-Berlin anzufliegen. Mit Hilfe des amerikanischen Botschafters in Bonn gelang es, am Nachmittag des 10. November in ein in Hamburg wartendes US-Flugzeug umzusteigen und Berlin noch rechtzeitig zu erreichen. Dort fand vor dem Schöneberger Rathaus eine denkwürdige Veranstaltung statt, auf der Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper feststellte, dass die Deutschen momentan das glücklichste Volk der Erde seien und Willy Brand orakelte, dass nun zusammenwächst was zusammen gehört. Es sollte freilich nicht ganz so reibungslos über die Bühne gehen …

Aus heutiger Sicht ist die damalige Situation, dass eine der bestgesicherten Grenzen der Welt quer durch Deutschland verläuft, schwierig zu begreifen. Im Jahr 1986 reiste ich mit meinem Vater und einem Kollegen geschäftlich nach Berlin. Wir fuhren mit dem Auto und überquerten bei Helmstedt/Marienborn die innerdeutsche Grenze. Wir kannten damals zwar dank Enterprise die unendlichen Weiten des Weltalls, dank Dallas und Denver Clan unermesslichen Reichtum und Dank Miami Vice Drogendealer vor einer irrealen Neonlicht-Kulisse, aber etwas surrealeres als diese Grenze kann sich heute keiner mehr vorstellen. Strassensperren, gleißendes Licht, Stahlkrallen in den Strassen und schwerbewaffnete Grenzschützer kann und will sich heute niemand mehr vorstellen.
Wir mussten aus dem Auto aussteigen, unsere Koffer wurden durchsucht und die Unterseite des Autos mit Spiegeln inspiziert. Natürlich mussten wir in unserer freien Zeit auch den Ostteil von Berlin besuchen.
Auf den heute pulsierenden Strassen Berlins fuhren nur vereinzelt Autos, es roch dabei wie auf unserem Schulhof, wenn alles Mopeds und Mofas gleichtzeitig starten. Die Strassen waren marode, die Häuser grau und teilweise noch von Kriegsschäden behaftet.
Da es Herbst war, stellten wir fest, dass die Prachtstraße Unter den Linden bis zum Alexanderlplatz und der folgenden Stalin-Allee in der Dämmerung komplett finster waren, was eine ziemlich morbide Stimmung erzeugte. An der Oranienburger Straße fuhren wir mit unserem S-Klasse Mercedes versehentlich in einen Bereich, der nur für Angehörige der Nationalen Volksarmee und der Volkspolizei zugänglich waren. Sofort erschien ein als Geländewagen umgebauter Trabant mit zwei Volksploizisten, die uns an der Weiterfahrt hinderten. Am Ende waren sie Gott sei Dank eher an dem Mercedes als an uns interessiert. Nach einer Beschau des Autos haben sie uns freundlich empfohlen, zurückzufahren. Am Ende des Tages waren wir froh, wieder im Westteil der Stadt mit seinen funkelnden Neonlichtern zu sein.

Das alles war am 9.November 1989 alles Geschichte. Eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten konnten wir uns zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen, uns hat jedoch die Angst eines Dritten Weltkrieges, insbesondere im Hinblick auf die Rolle eines Michail Gorbatschow verlassen.

Die folgende Zeit war eine der spannendsten meines Lebens. In meiner Ausbildung zum Speditionskaufmann lernten wir sämtliche Autobahnen und Grenzübergänge auswendig. Plötzlich mussten wir feststellen, dass hinter Gudow/Zarrentin, Helmstedt/Marienborn und Wartha/Herleshausen die Welt nicht aufhörte, sondern auf maroden Autobahnen weiterging. Ich hatte die große Chance, mit zwei erfahrenen Kollegen unser Speditionsgeschäft in den nun neuen Bundesländern mit aufzubauen. Wir hatten Glück, dass auf den Telefonleitungen nach zigmaligem Wählen eine Verbindung zustande kam und feierten das erste Faxgerät bei einem Ost-Berliner Partnerbetrieb wie eine olympische Goldmedaille. Es herrschte eine regelrechte Goldgräberstimmung und alles mögliche aus „dem Westen“ wurde in „den Osten“ gekarrt. Leider nicht umgekehrt, was aus logistischen Aspekten einem Super-GAU glich. So ging es auch in den folgenden Jahren mit der Wirtschaft in den neuen Ländern stetig bergab.
Schuld gab man in den allermeisten Fällen der Treuhand, die die Wirtschaft der ehemaligen DDR sanieren, privatisieren und im schlimmsten Fall abwickeln sollte. Auf Grund der maroden Industrie war Letzteres allzu häufig das Mittel der Wahl.
Meinen Job in dem Speditionsbetrieb, in dem ich meine Ausbildung absolvierte, hängte ich 1996 an den Nagel. Geblieben ist jedoch die Erfahrung mit den Menschen in den neuen Ländern. Es sind teilweise freundschaftliche Verbindungen entstanden, wir haben sehr viel voneinander gelernt, auch wenn nicht alles die Zeit überdauert hat.

Wir hatten damals die Hoffnung auf ein wirklich geeintes und friedliches Europa ohne Grenzen vom Atlantik bis weit hinter den Ural.
Dass 35 Jahre später im Weißen Haus in Washington erneut ein psychopathischer Egomane, dem der Rest der Welt am Arsch vorbeigeht, einzieht und dass im Kreml ein Schulhofschläger sitzt, der versucht, Europa in Brand zu setzen konnten wir uns damals überhaupt nicht vorstellen. Es bleibt zu hoffen, dass wir uns, insbesondere im Hinblick auf die Ereignisse und Erfahrungen des November 1989 immer dieses einzigartigen Glückes bewusst werden, egal, was es gekostet hat oder kosten wird. Wir sollten nicht Gefahr laufen, uns dass wieder nehmen zu lassen, egal von wem! Wir müssen nur ein wenig Mut haben und es selbst in die Hand nehmen und nicht mehr im Oktober den Götzen hinterherlaufen und etwas feiern, was es nie gab; sie sind weg und helfen uns nicht mehr.
Sie haben es nie getan …

It’s so bemusing
Will they cancel the parade?
We marched each October
Now they say we were never even saved
We must be very brave

My October Symphony, Pet Shop Boys, 1990


Entdecke mehr von Casual Conversations

Subscribe to get the latest posts sent to your email.