Share

Logistikspezialist (m/w/d) – Einstieg auch ohne Vorkenntnisse

Keine Angst, … ich poste hier keine Stellenanzeige oder Stellengesuche. Oben genanntes Angebot befand sich heute Morgen in einer eMail von LinkdIn! Dieses Oxymoron – ein Spezialist o/ne Vorkenntnisse hat mir sofort ein Lächeln ins Gesicht gezaubert.

Worum geht es nun in diesem Angebot? Dieses stammt von einem „wichtigen Anbieter von Weiterbildung und Qualifizierung im Bereich der IT, Industrie 4.0 und digitaler Transformation.“ Aha. Deren Fokus liegt „vor allem auf innovativen Technologien wie Automatisierungstechnik, Logistik 4.0 und Robotik, die Unternehmen und Fachkräfte optimal auf die Anforderungen der modernen Arbeitswelt vorbereiten.“ Noch ein Aha-Erlebnis!

Weiterhin erfährt man, dass es sich um eine neunmonatige Weiterbildung zur IT-Fachkraft zur Logistik 4.0 mit IHK-Zertifikat handelt. Vier praxisorientierte Module werden in einem Remote-Seminar angeboten. Das einzige, was nötig sei, ist ein stabiler Internetzugang. Das nächste Oxymoron, Praxisorientierung lernt man also daheim auf’m Sofa.

Auf unsere heutigen, fast 40 Kilometer langen Radtour ist mir dieser Post nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Am Ende bleibt mir nur ein Zitat des berühmten Franz Münchinger, Protagonist der berühmten 80er Jahre Serie Monaco Franze: „Ein rechter Scheißdreck war’s …“. „Wie, wie, wie …?“ – „Was, was was, …?“.

Nicht die Radtour, sondern der LinkedIn-Post. Warum? Dazu ein Abriss meiner Ausbildung und Erfahrung im Logisitkbereich. Es kann sein, dass es etwas länger wird, für einen kurzen Abriss hatte ich angesichts dieser fast schon ironisch anmutenden Anzeige keine Zeit.

Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger Jahre habe ich den Beruf des Speditionskaufmanns erlernt. Also das, was heute Logistiker sind. Die Ausbildung damals war enorm vielfältig – man lernte, wie man Güter von A nach B über die Straße, die Schiene, die Luft und das Wasser transportiert. Doch das war noch lange nicht alles, wir bekamen Einblicke in das Handelsrecht, national wie international, in das Versicherungswesen, die Klassifizierung von Gefahrstoffen und in zollrechtliche und zolltarifliche Dinge. Als Speditionskaufmann hätte man somit auch ohne weiteres als Industriekaufmann, in Zollagenturen, bei Luftfahrtgesellschaften, Reedereien, bei der Deutschen Bundesbahn oder gar in einer Verischerungsgesellschaft einen Job finden können. Die Ausbildung dauerte 3 Jahre und fand offline in einem Speditionsbetrieb und der Berufsschule statt. Da alle Mitschüler aus unserer Berusfschulklasse in LKW-Speditionen lernten, mussten wir gar sämtliche Autobahnen und die damals noch existierenden Grenzübergänge auswendig lernen. Das hat den hübschen Nebeneffekt, dass ich heute noch ohne Navigationsgerät von Hamburg nach München fahren kann, auf Grund der praktischen Ausbildung zusätzlich von dort wahlweise weiter nach Amsterdam oder Genua.

Freilich waren wir zu der Zeit der Ausbildung noch wenig IT-affin. Die Kommunikation erfolgte ausschließlich über Telefon und Fernschreiber (quasi ein Vorläufer von Chat-Programmen und WhatsApp-Gruppen). Ganz wild wurde es mit dem Aufkommen von Fax-Geräten. Man konnte auf einmal in Echtzeit einen handgeschriebenen Brief nach China schicken (den dort vermutlich keine Sau lesen konnte …)

Mussten wir damals einen unserer Fahrer erreichen, begann ein heute unvorstellbares Procedere: Wir suchten uns die Ladepapiere (tatsächlich aus Papier) heraus um herauszufinden, welche Kunden der Fahrer anfährt. Dann wurden aus einem meterlangen Schrank die Bundestelefonbücher herausgeholt, um die Telefonnummern der betreffenden Kunden herauszufinden. Diese wurden angerufen und man fragte sich zu der Stelle durch, die der LKW-Fahrer vermutlich anfahren wird. Wir baten dann höflich auszurichten, dass der Fahrer mal bitte in seiner Firma anruft. ’Ne Stunde später riefen wir dann nochmal an: „War unser Fahrer schon da.“ „Ja, er ist aber wieder weg.“ „Hatten Sie nicht ausgerichtet, dass er mal zurückrufen soll?“ „Ham’ wer vergessen …“. Da haste dann zunächst einmal Pech gehabt …

Der nächste technologische Turbo, der zur Verbesserung der Kommunikation gezündet wurde, war der sogenannte „Europiepser“. Das war ein kleines Gerät mit eigener Telefonnumer, die man Anrufen konnte. Der Besitzer des Gerätes wusste nun, dass er sich zurückmelden sollte.

Das folgende Highlight war die Erfindung des Mobiltelefons. Im Jahr 1991 hatten wir in unserer Spedition Partnerbetriebe in den neuen Bundesländer. Das waren die ehemaligen DEUTRANS-Betriebe (für den internationalen Güterkraftverkehr), die Kraftverkehrsbetriebe (für den überregionalen Güterverkehr) und Handelstransportbetriebe (für den regionalen Güterverkehr, also heute vereinfacht gesagt Amazon- und DHL-Boten). Das Telefonnetz in den neuen Bundesländern war so marode wie heutzutage Straßen, Radwege und Brücken in Deutschland. Was jedoch funktionierte, war das D2-Mobilfunknetz (damals noch von Mannesmann bereitgestellt). Ich hatte auf meinem Schreibtisch solch ein „mobiles“ Telefon, was freilich so mobil war, dass man es nur als durchtrainierter Gewichtheber oder russischer Kugelstoßer bewegen konnte.

Wir hatten in unserem Betrieb damals zu Beginn der Neunziger Jahre bereits ein elektronisches Frachtabrechnungssystem, welches von unserer eigenen EDV-Abteilung programmiert wurde. Das war damals bereits so fortschrittlich und einfach zu handhaben, dass es locker heute noch die Anforderungen erfüllen würde.

Seitdem hat sich insbesondere im technologischen Bereich die Welt mindestens um 180 Grad gedreht. Ich könnte meinen Job heute lediglich mit einem Tablet wahlweise auf dem Ballermann, der Zugspitze oder in einem Innuit-Iglo in Grönland ausführen, vorausgesetzt, das Internet ist stabil. Die Technik bietet uns heute die Möglichkeit, LKW über GPS zu orten. Wir können feststellen, wieviel Kraftstoff sich im Fahrzeug befindet, wie hoch die Reichweite sein wird, wieviel Lenk- und Arbeitszeit der Fahrer noch zur Verfügung hat, wie lange seine nächste Ruhepause dauern wird und wie viel von seiner wöchentlichen Arbeitszeit noch zur Verfügung steht. Die Technik rechnet uns ebenfalls aus, wie viele Leerfahrten noch wirtschaftlich sind und ob wir es uns beispielsweise unter allen vorgenannten Aspekten erlauben können, einen LKW leer von Koblenz nach Köln fahren lassen können um eine Ladung aufzunehmen. Unter oben genannten Aspekten können wir ebenfalls präzise unter Berechnung der momentanen und voraussichtlichen Verkehrsverhältnisse eine Aussage treffen, wann die Ladung, die wir dann in Köln übernehmen können in Hamburg sein wird. Die Ladeadresse sendet mein EDV-System dann einfach auf das Tablet des betreffenden Fahrers. Die Technik sagt mir dann auch unter Berücksichtigung oben genannter Faktoren, wieviel Zeit mein Fahrer noch hat und bis wohin ich ihn schicken kann, um eine Folgeladung aufzunehmen.

Schöne neue Welt – es hört sich perfekt an! Das ganze wird dann heute unter anderem mit dem trendigen Begriff Supply Chain Management umschrieben. All das „lernt“ man in der Weiterbildung zur IT-Fachkraft zur Logistik 4.0! Das hört sich doch zunächst einmal hervorragend an. Ich lerne ganz einfach vom Sofa aus, wie ich einen Warenstrom mit wenigen Mausklicks und einer intelligenten Technik in Gang halten kann. Freilich nicht nur, wie im Beispiel von Köln nach Hamburg, sondern gar weltweit. Das hört sich so romantisch an, wie in dem Lied Seemann, deine Heimat ist das Meer von Lolita:

Deine Heimat ist das Meer
Deine Freunde sind die Sterne
Über Rio und Shanghai
Über Bali und Hawaii
Deine Liebe ist dein Schiff
Deine Sehnsucht ist die Ferne
Und nur ihnen bist du treu ein Leben lang

Ist das wirklich alles so einfach? Kann man das so schnell lernen, womöglich von der Couch aus? Man lernt in dem angepriesenen Seminar grundsätzliche Dinge aus dem Logistikgewerbe, Gefahrgut, Zoll, Tourenplanung, Rechtsgrundlagen, Arbeitssicherheit, Nachhaltigkeit und ist am Ende gar „Programmierer für Softwarelösungen“, was normalerweise ein wenigstens ein Studium in einer Programmiersprache voraussetzt. Kurz und knapp – man mutiert zur eierlegenden Wollmilchsau! Für so etwas, freilich ohne die Programmierung zu lernen, waren damals drei Lehrjahre vorgesehen.

Nein. So einfach ist das nicht. Weiterbildungsinstitute wollen uns das weismachen, viele Führungskräfte in der Wirtschaft glauben das ernsthaft. Mit KI und hochgezüchteten EDV-Systemen machen wir das doch alles „mit der Kapp“ und alles flutscht. Quasi Vagisan für die logistischen Abläufe! Selbstverständlich ist heute vieles einfacher geworden. Mein Job ist heute gegenüber der Zeit meiner Ausbildung auf die reine vorgegebene Tätigkeit betrachtet die pure Erholung.

Heutige logistische Konzepte sind jedoch derart komplex, dass man sie ohne die genannte Technik gar nicht mehr bewältigen kann. Wie ich oben beschrieben habe, telefonierten wir früher oft stundenlang, um einen Fahrer zu erreichen. So ein Vorgehen wäre heute ein Ding der Unmöglichkeit! Heute wird erwartet, dass ich als Logistiker ein Verkehrsmittel auf Knopfdruck nicht nur von A nach B schicke, sondern auch noch über C und D, und das teilweise in Sekundenbruchteilen. Die Arbeit und der Einsatz, die dazu erforderlich sind, sind dank der Technik nicht das Problem. Das Problem ist der Stress, der dadurch aufkommt und Fehler und/oder Störungen in den logistischen Prozessen verursacht. Es gilt dabei nämlich, eine Reihe weiterer Parameter zu berücksichtigen, die einem keine Technik voraussagen kann.

Bleiben wir einfachheitshalber bei unserem Transport von Köln nach Hamburg. Ich kann alles präzise vorausberechnen. Was passiert jedoch, wenn der Kunde nun ganz einfach und kurzfristig entgegen des ursprünglichen Auftrages verlangt, den Transport von Hamburg nach Lübeck umzuleiten? Warum macht der Kunde das, sowas geht doch gar nicht? Doch, das geht heute. Der Kunde verwendet nämlich ein computergesteuertes Supply Chain Management System, das ihm sagt, dass plötzlich in Hamburg keine Lagerkapazität mehr frei ist, die in Lübeck aber noch zur Verfügung steht und es für ihn als Kunde kostengünstiger ist, den LKW einfach nach Lübeck umzuleiten. Warum sein System ihm so etwas vorschlägt oder meldet, bleibt zunächst sein Geheimnis. Als Logistiker schlägt nun Deine große Stunde. Du wirst nicht gefragt, ob Du das hinbekommst, es wird von Dir verlangt. Einfach so. Und dann nutzt Dir Deine schöne computergestützte Tourenplanung herzlich wenig, denn die fällt da gerade zusammenwirken ein Kartenhaus. Da nützt es Dir auch wenig, dass Du nun eine zertifizierte IT-, EDV-, Logistik- oder sonst was für ’ne Fachkraft bist.

Dann nämlich nützt kein Mausgeschiebe oder Knöpfchendrücken etwas, dann musst Du in diesem Fall zunächst mal mit dem Fahrer des LKW, einem Menschen, der da nun umgeleitet werden soll, kommunizieren! Spinnen wir mal weiter. Die Technik sagt mir gerade, dass in Hamburg ’ne Brücke gesperrt ist, die Umleitungen überlastet sind, Torben-Wirsing bei seiner Mutter Chantal-Sunrise aus‘m Lastenrad gefallen ist und die Straße blockiert und dies und das und Ananas. Dann musst Du mit einem Menschen sprechen, ihn fragen, ob er vielleicht noch ’ne andere Strecke kennt, die Dir Deine Technik, aus was für Gründen auch immer, nicht vorschlägt. „Ja, da gibt‘s ’ne Abkürzung, die kenne ich“. „Ich kenne auch den Kunden, da musst Du vorher über das Internet ein Zeitfenster zur Entladung buchen“. Super – hat Dir Dein Kunde zuvor natürlich nicht gesagt. In seinem System sieht der nämlich nur für ihn in Hamburg relevante Daten und andere Läger gehören nicht dazu und ihn nur sein System interessiert. Das soeben beschriebene führt natürlich zu enormen Stress, den es „früher“ in dieser Form nicht gab. Abweichungen von der Regel sind nämlich das Letzte, was Du heutzutage, insbesondere bei solchen Weiterbildungen lernst. Dort wird Dir beigebracht, wie Systeme funktionieren, was sie alles können und wie unglaublich effizient sie Deine Prozesse machen und nicht, was Du zu tun hast, wenn sie nicht funktionieren. Da ist es nämlich nicht damit getan, eine 24/7-Hotline anzurufen, die Dir sagt, was Du zu tun hast, wenn Dein Bildschirm anfängt zu flimmern oder TicToc nicht mehr erreichbar ist.

In der Logistik zählt zu allererst, dass Du mit Menschen zusammenarbeiten musst, auf die Du Dich verlassen kannst und die sich auf Dich verlassen können. Du kannst die tollsten und geilsten Systeme haben, aber der Faktor Mensch spielt die entscheidende Rolle.

Man kann noch so viele technische Lösungen erstellen, entscheidend ist in der Logistik daneben jedoch ein gerütteltes Maß an Erfahrung und der (selbstverständlich korrekte) Umgang mit Menschen, insbesondere im Hinblick auf rechtliche Hintergründe (z.B. Lenk- und Schichtzeiten von LKW-Fahrern).

Da bleibt mir das im Eingang genannte Lachen tatsächlich im Hals stecken und weicht ungläubigem Kopfschütteln. Es bewahrheitet sich meiner Ansicht nach wieder der Satz „Je weniger einer weiß, desto mehr glaubt er jeden Scheiß“. Das gilt für Leute, die meinen, sie währen nach den neuen Monaten Ausbildung eine Koryphäe in der Logisitk als auch für Führungskräfte mit Personalverantwortung die meinen, eine ebensolche Koryphäe für die Lösung all ihrer Probleme zu bekommen, womöglich noch für kleines Geld, denn der Bewerber hat ja, wie es in der Überschrift steht, keine Vorkenntnisse!


Entdecke mehr von Casual Conversations

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.